· 

"Wir waren doch noch Kinder" von Walli Richter

 

Die Geschichte der Kriegs- und Nachkriegsjahre zwischen 1940 und 1950 und hierbei die Geschichten Vertriebener aus dem Sudetenland. Darum geht es in „Wir waren doch noch Kinder“ von Walli Richter. Die Menschen, die dort zu Wort kommen und damals eben noch Kinder waren, teilen das Schicksal meiner Großmutter, deren Fluchtgeschichte ich mir früher auch des Öfteren erzählen ließ und die mich jedes Mal von neuem berührte.  

 

 

 „Ich sehe den Menschen!“

 

Sechzehn Zeitzeugenberichte umfasst Walli Richters 2012 erschienener Sammelband „Wir waren doch noch Kinder. Erinnerungen an die Vertreibung aus dem Sudentenland“. Sechzehn Berichte unterschiedlicher Menschen aus unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Erfahrungen. Und doch gibt es viele Gemeinsamkeiten. Immer wieder erschütternde Erzählungen von Hunger, Gewalt, Vertreibung und dem Versuch eines Neuanfangs. Oft scheint es unvorstellbar, welche Grausamkeiten unschuldigen Kindern und deren Familien zugefügt wurden – aufgrund ihrer Herkunft und der Zugehörigkeit zu einem Volk, das damals sinnbildlich für ebensoviel Terror, Grausamkeit und Zerstörung stand.

 

Im ersten Bericht des Buches schreibt Gert Schrötter über Säuglinge, die in Schlesien in Zugwaggons verladen wurden, um sie in den Westen zu retten. Nicht alle Babys haben die Reise überlebt …

 

Ab Mai 1945 wurde in der Tschechoslowakei die Parole „Tod den Deutschen“ ausgerufen – Deutsche galten nun als „vogelfrei“ (S. 33) – gekennzeichnet durch weiße Armbinden (S. 106). Es kam u. a. zu Vergewaltigungen – etwas, worüber man sprach und dennoch verschwieg. Margaretha Pichl-Wolf bekam als kleines Mädchen keine Antwort auf ihre Fragen, konnte sich aber doch zusammenreimen, dass es sich um „etwas Grauenvolles“ handelte, „etwas, woran man sterben konnte, was aber nur Mädchen und Frauen betraf.“ (S. 84) Es lässt sich nur erahnen, welche Angst die Kinder der damaligen Zeit durchlebten und welche Spuren diese Erlebnisse bis ins hohe Erwachsenenalter hinterlassen haben müssen.

 

Besonders erschütternd ist der Bericht „Todesmarsch und Zwangsarbeit eines 14-Jährigen“ von Horst Theml (S. 141-157). Alle Männer zwischen 13 und 65 wurden aufgerufen, sich mit Verpflegung für drei Tage zu melden – bei Nichterscheinen drohte die Todesstrafe. Unter den Männern waren vor allem recht junge und alte, da die wehrfähigen meist noch beim Militär oder in Gefangenschaft waren. Mitglieder der SS wurden vor aller Augen gefoltert, die anderen mussten einen für viele tödlichen Marsch zu einem Zwangsarbeitslager auf sich nehmen – unter schweren Bedingungen: So war „die Verpflegung zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“ (S. 149). Neben den Erinnerungen an all die schrecklichen Geschehnisse wird immer wieder die schwierige Suche nach der Heimat thematisiert.

 

Aber es gibt auch Versöhnliches. Johann H. Frömel schreibt beispielsweise, dass „es bereits in der Charta der Heimatvertriebenen 1951 geheißen“ hatte, „dass wir auf Hass und Rache verzichten würden“ (S. 206). Und auch Hans Klein erzählt von einem ihm sehr wohlgesonnenen Bauern, der ihn vor der Aussiedlung entsprechend entlohnte und der mit seiner Familie bei einem Besuch in der Tschechoslowakei 23 Jahre später das Schicksal des deutschen Jungen beweinte (S. 239f.).

„Was ist Nationalität? Ich sehe den Menschen!“ schreibt Hilda Sura (S. 72). Diesen Weg sollten wir weiterverfolgen …

 

Das Buch bietet einen detaillierten Einblick in die Schicksale und Geschehnisse der damaligen Kriegs- und Nachkriegszeit – es wird häufig sehr nüchtern erzählt und gerade dadurch emotional. Wohl nur Zeitzeugen vermögen, Geschichte so lebendig werden zu lassen – in aller Schonungslosigkeit, die einen zuweilen wünschen ließe, es handle sich um Fiktion. Keine leichte Lektüre. Aber eine, die man sich antun sollte.

 

Walli Richter: Wir waren doch noch Kinder. Erinnerungen an die Vertreibung aus dem Sudentenland. | Universitas Verlag  | 23.08.2012 | 248 S. | Hardcover | ISBN: 978-3800415106

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Stefan Brehm (Montag, 10 August 2020 22:51)

    Der Inhalt ist sehr treffend wiedergegeben. Mit dem Buch erhält man Einblicke in Geschichte, wie sie in der Schule eher nicht vermittelt wird. Bei der großen Anzahl von Nachkommen der Nachkriegsflüchtlinge und Vertriebenen verdienen solche Berichte von Zeitzeugen eigentlich eine größere Aufmerksamkeit.