Texte

Leseprobe aus "Evas Spiel"

22. März

Da lag sie nun. Das Gretchen alias Eva Schuberth. 32 Jahre alt, mitten im Leben. Die Wangen glänzten rosig. Es sah aus wie der perfekte Bühnentod, hatte etwas fast Malerisches an sich. Aber irgendetwas störte. Das Blut, das da nicht enden wollend aus ihrem Oberkörper strömte, der merkwürdig abgeknickte Arm, der gerade noch eine Pistole gehalten hatte. Nach zwei Stunden dicht gedrängten Spiels um Sinnsuche, Gewissenskonflikte und todbringende Beziehungsdramen hatte sich das Ende erstaunlich schnell aufgelöst. Die Zuschauer hatten Mühe, die letzten Worte und Vorgänge überhaupt so schnell zu begreifen. Da dringt Faust in den Kerker ein, bewaffnet, will Gretchen mit sich fortnehmen, wird gedrängt von Mephisto. Plötzlich ertönt der Schuss. Mitten ins Herz. Gretchen am Abzug. Sie schwankt, sie stürzt. Blut. Dann geht das Licht aus. Nach zwei Sekunden Stille begann das Klatschen, das sich in Kürze in Johlen, Füßetrappeln und Standing Ovations ausweitete. Nach den letzten, umstrittenen Premieren, welche die Zuschauerschaft in mindestens zwei Lager geteilt hatten, herrschte nun Einigkeit. Es war großartig, was sich soeben auf der Bühne ereignet hatte. In den Ankündigungen war nicht zu viel versprochen worden. Der Saal tobte. Schauspieler und Zuschauer wurden eins. Nach und nach strömten die Darsteller auf die Bühne, versammelten sich um das immer noch still daliegende Eva-Gretchen, Glück in den Augen, euphorisch. Sie setzten zur Verbeugung an. Warum aber erhob sich die weibliche Hauptdarstellerin nicht? Lächelnd streckte Johnny-Faust seinen Arm nach ihr aus, war im Begriff, sie hochzuziehen. Erst jetzt wurde nicht nur ihm, sondern auch seinen Kollegen auf der Bühne sowie allen knapp sechshundert Zeugen im Zuschauerraum bewusst, was sich da wirklich vor aller Augen ereignet hatte. Johnny-Faust fiel auf die Knie, versuchte vergeblich, mit einem Taschentuch den Blutstrom einzudämmen, Stimmen nach einem Arzt wurden laut, die Sanitäter, die für den Fall der Fälle, der nie eintrat, hinter der Bühne saßen, sprangen mit ihrem Erste-Hilfe-Koffer herbei, stießen die umstehenden Schauspieler beiseite, ein älterer Mann, bebrillt, schwarzer Anzug, drängte nach vorne. Offenbar der verlangte Arzt. Der Vorhang wurde geschlossen, um die Gretchen-Darstellerin nicht länger den voyeuristischen Blicken des Publikums auszusetzen. Die Euphorie verwandelte sich in Tumult. Fassungslosigkeit breitete sich aus wie ein Feuer. Hektik machte sich breit. Entsetzen. Auch das Theaterpersonal war offensichtlich nicht auf solch ein Geschehnis eingestellt. Nach einigen Minuten, als der Saal sich schon um gut ein Drittel geleert hatte, stolperte Annette Ludwig auf die Bühne. Mit brüchiger Stimme verkündete sie, dass es offenbar einen Unfall gegeben habe und die Zuschauer den Saal verlassen mögen. Sie dankte für das Verständnis, das niemand ihr entgegenbrachte in diesem unerhörten Augenblick. Alle gingen, nach und nach, manche wie betäubt. Nur einer blieb. Er konnte den Blick nicht abwenden vom rot-samtigen Bühnenvorhang, hinter dem gerade die Schauspielerin, die er so sehr bewunderte, um die letzten Sekunden ihres kurzes Lebens rang. Er hörte das aufgeregte Geklapper und Geraschel der Rettungskräfte. Spürte die hilflosen Versuche, Eva wieder ins Leben zurückzuholen. Vernahm die aufgeregten Stimmen, draußen ein Martinshorn. Nervöse, laute Schritte. Wie in einem Alptraum zogen die unsichtbaren Ereignisse hinter dem Vorhang an ihm vorbei. Er spürte in seiner Erstarrung nicht, wie die Zeit verging. Irgendwann erlosch das Licht im Zuschauerraum, die Stimmen verklangen. Langsam fand auch er den Weg nach draußen, sah das schwarze Fahrzeug, die Männer, die einen Sarg trugen. Mit ihrem Körper. Eine Welt brach für ihn zusammen. Und  gleichzeitig reifte der Entschluss, sie nicht einfach so gehen zu lassen.