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"Die Welt im Rücken" von Thomas Melle

 „Die Chronik einer manisch-depressiven Erkrankung: erzählerisch funkelnd, autobiografisch radikal.“ heißt es im Klappentext zu Thomas Melles „Die Welt im Rücken“. Und genauso habe ich selbst die Lektüre erlebt. Der Autor versteht es auf großartige Weise, mit Worten zu jonglieren, Bilder zu kreieren und zu erzählen. Gleichzeitig hat es das, worüber er schreibt, wirklich in sich. Wie sehr eine bipolare Störung das komplette Leben auf den Kopf stellt, verdeutlicht Melle eindringlich und schonungslos.

 

Leben auf dem Kopf

 

Ich möchte Ihnen von einem Verlust berichten. Es geht um meine Bibliothek. Es gibt diese Bibliothek nicht mehr. Ich habe sie verloren.“ (S. 7) So beginnt der Autor seine als Chronik kategorisierte autobiografische Schilderung seiner manisch-depressiven Erkrankung. Schon aus den ersten Sätzen lässt sich die Tragweite des folgenden Berichts aus den Jahren zwischen 1999 und 2016 erkennen. Es sind eben nicht nur ein paar Bücher, die verloren gehen, sondern eine ganze Welt. So heißt es auch über den Beginn der Krankheit 1999: „The day the whole world went away.“ (S. 23) Oder später: „In den Wochen vor der Einweisung war ich mir und den anderen langsam, aber sicher abhandengekommen.“ (S. 39)

 

„Die Welt im Rücken“ erzählt von Zwangseinweisungen in die geschlossene Psychiatrie, Suizidversuchen, Konflikten mit der Polizei und weiteren Grenzerfahrungen. Der Ich-Erzähler thematisiert am Rande die schwierige Kindheit, die von Trennungen und Gewalt geprägt war, berichtet von Messias-Phantasien, Treffen mit Picasso, erzählt von einem Aufenthalt in London, bei dem er mittellos am Flughafen gestrandet war, und dass er für ein paar Stunden als tot galt, nachdem er seinen Nachruf per Blog verfasst und seinen Wikipedia-Eintrag manipuliert hatte. „Ich klaute, raste, schrie.“ (S. 101) resümiert er seinen Zustand der Manie.

 

Tiefe Einblicke in die bipolare Störung

Zwischen den emotionalen Schilderungen der oft widersprüchlichen Gemütszustände finden sich auch immer wieder einordnende Erklärungen. So erfährt man, dass der Autor von einer schweren Form der Bipolar-I-Störung betroffen ist. Während die Zustände von Manie und Depression bei manchen nur Tage umfassen, dauern sie bei ihm jeweils ca. ein Jahr, wobei die Manien darüber hinaus von paranoiden Psychosen begleitet sind. So bezieht er alles Mögliche auf sich – wie beispielsweise die Anwesenheit eines Kamerateams in einem Restaurant – oder sucht ganz Berlin nach einer Party ab, die angeblich für ihn organisiert wird. Der Leser wird Zeuge, wie Melle in der Geschlossenen mit seinen Mitpatienten wie dessen Arzt spricht, zum Messias wird, Sex mit Madonna hat oder durch „die Stadt wie eine Gamefigur [ging], (…) von Level zu Level [jumpte]“ (S. 80) Da wünscht man sich, es möge Fiktion sein und nicht der authentische Einblick eines von der Krankheit Betroffenen. Bekenntnisse wie „Was ich bisher geliebt hatte, zerstörte ich.“ (S. 107) oder „Ich sitze da und bin ein Gegenstand.“ (S. 114) sind für einen Nicht-Betroffenen teilweise schwer nachzuvollziehen.

 

Sprachgewaltige Bilder

Ausdrucksstark sind die Bilder, mit denen Melle sich und seine Krankheit zu vermitteln versucht: „Im Kopf war glühender Matsch.“ (S. 23) oder: „Die Stille summte.“ (S. 74)

Nicht nur, wenn er schreibt, „Ich war ein verlorener Tourist in der eigenen Manie.“ (S. 238), beschreibt Melle eine ungewöhnliche Distanz zu sich selbst, sondern auch, wenn er, wie aus einer Außenperspektive erklärt: „Das Hirn stürzt herrenlos davon.“ (S. 43) oder: „Dann kocht der Gehirnstoffwechsel über, und der Mensch rastet aus.“ (S. 50)

 

Fazit

Bewundernswert ist die Radikalität des Autors. Er zeigt sich in seiner ganzen Verletzlichkeit („Und drehte als Lachfigur wieder meine zitternde Runde.“, S. 178) und schafft es, Hochstapelei und Understatement zu vereinen: „Ich bin zu einer Gestalt aus Gerüchten und Geschichten geworden.“ (S. 16) Beim Lesen empfindet man Mitleid und Fremdscham in einem, gleichzeitig aber auch Respekt, so mit sich selbst und seiner Krankheitsgeschichte ins Gericht zu gehen. An der einen oder anderen Stelle dauert es, bis Melle zum Punkt kommt. Manchmal wünscht man sich Kürzungen, wenn er sich im Kreis dreht. Gleichzeitig bleibt wohl nichts anderes übrig, als hier mitzuleiden, wenn man nur einen Bruchteil dessen erfassen will, was ein bipolarer Mensch durchlebt. Diese Schonungslosigkeit erfordert Mut. Davor und vor allem aber vor Melles literarischem Talent sollte man auf jeden Fall den Hut ziehen.

 

Thomas Melle: Die Welt im Rücken. 5. Auflage. | Rowohlt Berlin | September 2016 | 352 S. | Hardcover | ISBN: 978-3-87134-170-0

 

 

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