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"Hundert Tage" von Lukas Bärfuss

Es war persönliches Interesse, das mich bei der Lektüre von Lukas Bärfuss‘ „Hundert Tage“ leitete. So haben mein Mann und Familie Anfang der 80er Jahre in Kigali gelebt – einige Jahre, bevor Bürgerkrieg und Völkermord Ruanda zu Beginn der 90er erschütterten. Genau mit diesen furchtbaren Ereignissen setzt sich Lukas Bärfuss in seinem politischen Roman rund um den fiktiven Protagonisten David Hohl, einen Schweizer Entwicklungshelfer, auseinander und schafft dabei Literatur, die man gelesen haben sollte.

 

Zwischen Tugend und Verbrechen

 

Es sind Sätze wie „Ich sehe in seinen Augen, wie er sich erinnert, nur erinnert und nicht spricht, vielleicht, weil er keine Worte dafür hat, sie noch nicht gefunden hat und wohl auch nicht finden will.“ (S. 5), die einen gleich zu Beginn von Lukas Bärfuss‘ Roman „Hundert Tage“ in den Bann ziehen. Man ahnt bereits ab der ersten Seite, dass hier Geschehnisse von Tragweite verhandelt werden: David Hohl, Schweizer Entwicklungshelfer, geht 1990 nach Ruanda, „um die Menschheit weiterzubringen“ (S. 6). Er erlebt den Bürgerkrieg und wird schließlich Zeuge des ca. 100-tägigen Genozids 1994, bei dem ein Großteil der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit von Angehörigen der Hutu-Mehrheit ermordet wurde. Unter Gewalt und Terror verliert David zunehmend seine Ideale und hat am Ende schließlich nur noch das Ziel, sein eigenes Leben zu retten.

 

Der Roman startet mit der Ich-Erzählung eines nicht näher beschriebenen Schulkameraden von David, dem der Entwicklungshelfer nach seiner Rückkehr aus Afrika von seinen Erlebnissen berichtet. Schon nach kurzer Zeit wechselt die Perspektive – in eine stark verdichtete Ich-Erzählung aus Sicht von David. Dabei verwendet Bärfuss eine bildhafte, zuweilen poetische Sprache, mit der es ihm gelingt, die Spannung hochzuhalten und einen eintauchen zu lassen in eine ganz eigene Atmosphäre. Gemeinsam mit dem Protagonisten durchlebt der Leser die Widersprüche, die den Entwicklungshelfer umgeben und mit den äußeren ambivalenten Umständen auch die daraus resultierenden Gefühle – von Neugier und Begierde hin zu Abscheu und Entsetzen.

 

Zwischen Leidenschaft und Entsetzen

Besonders deutlich wird Davids Ambivalenz in seiner Liebe zu Agathe, Tochter eines Ministerialbeamten. Ihn zieht das ihm Fremde in ihr an, gleichzeitig wird er von ihrem Hochmut immer wieder vor den Kopf gestoßen und mit ihrer zunehmenden Radikalisierung, die sie schließlich mitlaufen lässt beim Morden der „Kurzen“ (Hutu) gegen die „Langen“ (Tutsi), steigt auch seine Diskrepanz ihr gegenüber. Trotz seines zunehmenden Entsetzens kann er sich der Leidenschaft für sie nicht entziehen und erliegt immer wieder einem großen Begehren, für das er aber auch von Agathe in seine Schranken gewiesen wird: „Ihr habt vielleicht unser Land kolonialisiert, meinte sie einmal, aber ich werde nicht zulassen, dass du meinen Körper kolonialisierst.“ (S. 100)

 

Kritik an der Entwicklungshilfe

Nachdem David seine Stelle als Entwicklungshelfer in der Schweizer „Direktion“ in Kigali voller Optimismus und Idealismus angetreten hat, muss er am Schluss erkennen, dass wohl genau durch diese Entwicklungshilfe überhaupt erst die Strukturen geschaffen wurden, die den Genozid ermöglichten: „Schließlich waren wir es gewesen, die ihnen die Verwaltung beigebracht hatten, das Wissen, wie man eine Sache von dieser Größe angeht, und es spielt keine wesentliche Rolle, ob man Ziegelsteine oder Leichen abtransportiert.“ (S. 12). Oder noch deutlicher: „Hätten sie sich nicht an unsere Vorgaben gehalten, so hätten sie keine achthunderttausend Menschen umbringen können, nicht in hundert Tagen.“ (S. 135)

 

Fazit

Gekonnt schafft es Lukas Bärfuss in seinem Roman, die Geschehnisse des ruandischen Völkermordes zuweilen fast reportageähnlich zu beschreiben und den Leser gleichzeitig durch den fiktiven Protagonisten David Hohl eine interessante subjektive Perspektive einnehmen zu lassen, wie es eben nur Literatur vermag. Er setzt sich kritisch mit Entwicklungshilfe im Allgemeinen und der Rolle der Schweiz im Besonderen auseinander und eröffnet damit einen Diskurs, der sich sicherlich auch auf andere (historische) Situationen und Begebenheiten übertragen lässt: „Das Schlimmste ist der Gedanke, den ich in den hundert Tagen immer wieder hatte und der mich bis heute quält, dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen.“ (S. 116) Und auch als Leser bleibt man zurück mit einem schalen Gefühl, das man nicht so schnell wieder loswird. „Hundert Tage“ ist auf jeden Fall ein Text, der nachwirkt.

 

Lukas Bärfuss: Hundert Tage | Wallstein Verlag | 2009 | 158 S. | E-Book | ISBN: 978-3-8353-2327-8

 

 

 

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