Der Titel war es, der mich bei Monika Helds Roman „Trümmergöre“ neugierig gemacht hat. Mit Spannung folgte ich den Spuren der Protagonistin in ihre Vergangenheit im Hamburg der Nachkriegszeit und in ein Leben zwischen Trümmern, zwischen zwei Welten und zwischen Familienmitgliedern, die sich eigentlich nah sind und doch schweigend so fern. Eine Lektüre, die mich wohl nicht so schnell wieder loslässt.
Schweigen zwischen den Trümmern
Die kleine Jula ist vier, als ihr Vater sie im Hamburg der Nachkriegszeit in die Obhut ihrer Großmutter gibt. Die Mutter ist verstorben, der Vater beim Auswärtigen Amt und aufgrund seiner Auslandstätigkeit nicht in der Lage, sich selbst um seine Tochter zu kümmern. Schnell findet sich Jula in die ganz eigene Welt der Großmutter ein, die sich die Wohnung mit ihrem Sohn Hans teilt, ohne dass sich deren Wege je kreuzen. Nach und nach wird Jula zur „versauten Göre“, die ihre Nachmittage auf dem Gebrauchtwagenplatz ihres Onkels verbringt und die Schularbeiten auf der Reeperbahn macht. Ihr Vater will dem Ganzen ein Ende setzen, als er sie mit zwölf in seine „erdbeerfarbene Villa“ zurückholt. Es beginnt ein Leben zwischen zwei Welten: täglich wechselt Jula von da an ihre Rollen – als „höhere Tochter“ Juliana und „Ass im Ärmel“ von Hans und seinen Freunden aus dem Rotlichtmilieu.
Monika Helds Roman startet mit einer Zeitungsannonce, in der die erwachsene Jula zufällig auf die ehemalige Wohnung der Großmutter und des Onkels stößt. Sie überlegt, mit ihrem Partner dort endlich zusammenzuziehen, muss sich aber erstmal mit den Schatten ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.
Schnell hat die erwachsene Jula wieder die Bilder der Kindheit vor Augen. Die ausgeklügelten Regeln der Großmutter und des Onkels, die allerlei Anstrengungen auf sich nehmen, um sich in der gemeinsamen Wohnung nur ja nicht zu begegnen.
Die Autorin verwendet sehr kreative, sprechende Namen, um insbesondere die Welt von Onkel Hans, in der er Jula nach und nach einführt, zu charakterisieren. So sind Schuten-Ede, Trümmer-Otto und Ingemusch nicht nur Hans‘, sondern bald auch Julas engste Bezugspersonen. Seine Mutter wird von Hans abfällig als „Rabenaas“ bezeichnet, während diese ihren Sittich „Hansi“ ruft – wie einst den Sohn, der schon als kleiner Junge im Keller eingesperrt sowie später durch ein einschneidendes Erlebnis im Krieg traumatisiert wird.
Schweigen
Gekonnt legt Monika Held nach und nach die Trümmer frei, die der Krieg nicht nur in der Außenwelt hinterlassen hat, sondern vor allem in der Seelenwelt der einzelnen Figuren. Mit Spannung kann man als Leser Jula bei ihrer Reise in die Vergangenheit begleiten – immer auf der Suche nach weiteren Puzzleteilen, um das große Ganze der Familienverstrickungen und insbesondere das Schicksal von Onkel Hans zusammenzusetzen und schließlich zu verstehen.
Julas Welt von einst ist geprägt vom Schweigen, das die einzelnen Familienmitglieder trennt und gleichzeitig verbindet. Ihr ist klar: „Wer schweigt, lügt nicht. Meine heimlichen Welten waren stabil, die Wahrheit hätte sie zertrümmert.“ (S. 190) Noch mehr Trümmer hätte sie vermutlich nicht verkraftet – so findet das Mädchen und später die Jugendliche einen Weg, sich in der Welt des Vaters „Vpunkt“, der einsamen Großmutter und des psychisch kranken Onkels zurechtzufinden.
Buchstaben und Zahlen zwischen den Abgründen
Dennoch haben Jula und Hans in ihrem von Schweigen bestimmten Leben ihre ganz eigene Art, zu kommunizieren. „Hans hat mir beigebracht, mit Buchstaben zu rechnen und mit Zahlen zu schreiben (…)“ (S. 195), resümiert die Protagonistin. Als kleiner Junge, alleine im Keller zurückgelassen, hat Hans sich die Methode angeeignet, jeden Buchstaben – anhand seiner Platzierung im Alphabet – mit einer Zahl zu versehen. Dass diese Eigenart für Hans, der sich von „Vollstreckern“ umgeben sieht, immer weniger Spiel als vielmehr Obsession ist und ein Weg, der zertrümmerten Welt um ihn und in ihm eine ganz eigene Ordnung zu verleihen, wird im Laufe der Handlung immer deutlicher.
Fazit
Monika Held ist mit „Trümmergöre“ ein eindrücklicher Roman gelungen – mit differenziert gezeichneten Protagonisten, deren Innenwelten die Trümmer der Außenwelt bemerkenswert widerspiegeln. Auch das im Text mehrfach thematisierte Schweigen, das die Familienmitglieder voneinander trennt und doch eint, ist sicherlich kein Einzelphänomen der beschriebenen Nachkriegszeit. Eine Lektüre, die nachwirkt.
Monika Held: Trümmergöre | Eichborn Verlag | August 2014 | 240 S. | Hardcover | ISBN: 978-3-8479-0570-7
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